Magie der Geschichten. Schreiben, Forschen und Reisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Magie der Geschichten. Schreiben, Forschen und Reisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Organizer(s)
DFG-Projekt “Realistische Anthropologie. Konstellationen zwischen realistischer Prosa und der Wissenschaft vom Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, Institut für Germanistik, Technische Universität Dresden; Deutsches Hygiene-Museum Dresden
Location
Dresden
Country
Germany
From - Until
12.03.2009 - 14.03.2009
Conf. Website
By
Susanne Illmer, DFG Projekt "Realistische Anthropologie", Institut für Germanistik, Technische Universität Dresden

Die Beiträge der Tagung unternahmen den Versuch, Züge jener „Poetologie des Wissens“ (Joseph Vogl) als Gesamtheit von narrativen, statistischen, szientifischen Verfahren, Techniken und Regeln zu rekonstruieren, die im Schnittpunkt der wichtigsten wissenschaftlichen Themen der Zeit den historischen Diskurszusammenhang einer „realistischen Anthropologie“ entstehen ließen. Zur Debatte standen dabei vor allem auch der Status und die Funktion von Literatur innerhalb dieser Wissensordnung, also die Frage, wie in der erzählerischen Vermittlung realistischer Prosa Themen wie Kolonialisierung, Globalisierung, die Entstehung neuer Metropolen und die biologistische Neuformierung des Menschenbildes unter dem Eindruck des Darwinismus verhandelt wurden, um die Frage nach Sinn und Ort des Menschen in der Welt zu neu stellen.

Dieser Rekonstruktionsversuch erfolgte in vier Sektionen: Zunächst wurden mit den Kulturtechniken des „Reisens, Sammelns und Erzählens“ Verfahren und Bedingungen der Hervorbringung eines spezifischen Wissens untersucht. In einer zweiten Sektion, „Medien des Realismus“, gerieten die Erfolgs- und Verbreitungsmedien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Blick, also Medien der Wissenspräsentation und Erfolgsmedien der Kommunikation, wie Sprachen, Zeit oder Geld. Eine weitere Sektion, „Das Wissen der Literatur“, erhellte die Verfasstheit der Wissensbestände, die durch Transformations- und Austauschprozesse zwischen den Medien in literarische Texte gerieten und fragte dabei nach deren spezifischer Literarizität. Schließlich wurde in einer den Tagungstitel variierenden Sektion, „Magie der Dinge“, das besondere Vermögen der Literatur beschrieben, gegen die szientifische Versuchung bei der Erklärung von Vorgängen und Zusammenhängen eine magische Dingbeziehung zu evozieren, gegen die Pragmatik der Weltbewältigung einen rituellen Vollzug von Handlungen zu beschreiben und gegen die Relativierung und Entwertung von Weltsachverhalten ihre Bedeutungsaufladung bis zum Fetisch zu rekonstruieren.

Im Eröffnungsvortrag der ersten Sektion legte der Historiker BERNHARD KLEEBERG (Konstanz) dar, wie parallel zur Erfassung und Durchmessung des geographischen Raumes im Zuge von Reise- und Migrationsbewegungen auch der soziale Raum der Großstädte durchmessen wurde und „Armut“ als biopolitische Größe in den Blick geriet. Am Beispiel der Metropole London erörterte er mit der Sozialreportage und der Armutsstatistik zwei Verfahren „empirischer Sozialforschung“, wobei insbesondere die Sozialreportage Muster ethnographischer Beschreibungspraktiken adaptierte und damit eine Binnenexotisierung des Soziotops der "Armut" bewirkte: Reisen in den „Kontinent der Armut“ versprachen Spannung, Abenteuer und die Entdeckung von Unbekanntem.

Inwiefern sich die Darstellung ethnographischen Wissens letztendlich als Rekonstruktion und Bestätigung stereotyper Vorannahmen vom „Fremden“ erweist, zeigten GABRIELE DÜRBECK (Hamburg) anhand der Texte Friedrich Gerstäckers, Otto Schellongs und Karl Sempers und TORSTEN HAHN (Köln) anhand der photographischen Illustrationspraxis in F.W.Hackländers „Reise in den Orient“.

In einem grundsätzlichen Sinne beschrieb MICHAEL NEUMANN (Dresden) „Wandern und Sammeln“ als die seit der Romantik etablierten Strategien der Raumaneignung, die im Zuge der globalen Öffnung der Räume als Methode der Wissenserzeugung eine neue Prominenz erhielten. Während dabei die ursprünglich naturgeschichtliche Methode der „unmittelbaren Anschauung“ zum Authentifizierungsprogramm eben nicht nur naturkundlicher und ethnologischer, sondern auch historiographischer und sozialpolitischer Texte geworden sei, seien die Selektionskriterien dessen, was den Status von Material erhalten habe, mitnichten voraussetzungslos und objektiv gewesen, sondern von ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt, die im Gefundenen die poetologischen Regeln eines „geschlossenen Kunstwerks“ erkennbar werden ließen.

Die Stilisierung der Reiseerfahrung, des „unmittelbar sinnlichen Erlebens“, als Produktionsbedingung historiographischer und naturkundlicher Texte machten DOMINIK FUGGER (Erfurt) am Beispiel des Historikers und Schriftstellers Ferdinand Gregorovius und ALEXANDRA-KATHRIN STANISLAW-KEMENAH (Dresden) an den Reiseberichten und ornithologischen Publikationen des Ehepaars Margarethe und Alexander König deutlich.

WALTER SCHMITZ (Dresden) analysierte in seinem Vortrag die Literatur als das Medium im Mediensystem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem ein neues Menschenbild entworfen wurde, wobei das „Gute“ im Menschen nicht mehr als normatives Ideal didaktischer Programme intendiert, sondern naturalisiert zum Wesenskern des Menschen erklärt worden sei. Literatur wurde dabei unter Absehung ihrer Literarizität zur „Natursprache“ des Menschen, in der allein er sich authentisch äußern könne.

LOTHAR SCHNEIDER (Gießen) analysierte anhand der Kontorszenen in Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ die Möglichkeit, anhand von Kolonialwaren „vor Ort zu reisen“. An die Dinge lagerten sich Herkunftserzählungen, exotische Versprechen und bürokratische Prozeduren an, die sich dem Protagonisten über Lektüreerfahrungen erschlössen. Sie bildeten im Roman die Möglichkeit, die Bedingungen und Gefahren einer literarischen Sozialisation abzuhandeln.

Wohl kaum eine andere Größe wurde analog zur Erfahrung des Raumes in der Auseinandersetzung mit Globalisierung so wichtig wie die Beherrschung und Kontrolle der Zeit. STEPHAN HÖHNE (Berlin) las in seinem Vortrag Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“ als Roman über das richtige „Timing“. In Phileas Fogg habe sich der moderne Typus des Passagiers verkörpert, dem es im Wettlauf gegen die Zeit einzig um die Einhaltung seines Zeitplans ginge. Während die gelingende Umrundung der Welt in achtzig Tagen so als sinnfreier „zirkulärer Exodus“ erscheine, machte Stephan Höhne eher beiläufig deutlich, dass der Versuch einer Beherrschung der Zeit im Dienste einer ganz anderen globalen Verkehrsform erfolgt sei: dem Geldverkehr der Börsen.

Mit dem Selektionsdruck, unter den die etablierte Massenpresse die anderen Mediensysteme des 19. Jahrhunderts in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit hinsichtlich Auswahl und Aufbereitung von Wissens setzte, beschäftigte sich MANUELA GÜNTER (Köln) in ihrem Vortrag. Am Beispiel von Fontanes literarischen Texten zeigte sie, wie dieser ein „marktgängiges“ Konzept von Literatur als Unterhaltungsmedium habe entwickeln können, dessen implementiertes Wissen „informationsförmig“ strukturiert gewesen sei.
UWE C. STEINER (Mannheim) wandte sich in seinem Vortrag dem 19. Jahrhundert als dem „Säculum der Dinge“ (Hartmut Böhme) zu, indem er Böhmes kulturmaterialistische These, dass die künstlichen Dinge niemals nur eine Produktform als Resultate menschlichen Handelns aufwiesen, sondern von ihnen auch eine formative Kraft ausginge, die Anmutungen, Einstellungen, Gebrauchs- und Handlungsanweisungen enthielte, in seinem Vortrag überzeugend für die Texte Stifters, Vischers und Wilhelm Buschs adaptierte.

KENNETH S. CALHOON (Eugene, OR) sah in seinem Vortrag im Anschluss an Erich Auerbachs Realismuskonzept die realistische Literatur durch die Sensibilität für genau jene Kräfte der Gegenwart charakterisiert, die die Zukunft beeinflussen würden und aus denen diese sich herauslesen ließe. Deshalb waren gerade für diese Literaturepoche die Bibel und Homers Epen mit ihrem Verfahren der Prolepse, der deutenden Vorausschau, wichtige Referenztexte. In die „Vorgeschichte“ dieses realistischen Verfahrens gehörte Anette von Droste-Hülshoffs Erzählung „Die Judenbuche“ (1842), an der Calhoon dieses Erzählprinzip erläuterte.

Mit dem Verhältnis von Geologie und Kultur- bzw. Literaturgeschichte beschäftigten sich die Vorträge von GEORG BRAUNGART (Tübingen) und PETER SCHNYDER (Zürich). Während Braungart in seinem Vortrag an seine bereits einschlägigen Überlegungen zu diesem Thema anschloss und ausgehend von Freuds Aufstellung der drei narzisstischen Kränkungen des neuzeitlichen Subjekts die zeitliche Marginalisierung des Menschen durch die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit als vierte Kränkung identifizierte, an der sich die Literatur abarbeitete, verdeutlichte Schnyder die Adaptionsfähigkeit geologischer und paläontologischer Verfahren der Wissensproduktion durch literarische Texte an Beispiel von Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“, der seine Modernität aus diesen Synergieeffekten bezog.

Als exemplarischen Text für „ungeheure Karriere“ (Hartmut Böhme) des Fetischismus im 19. Jahrhundert las HELMUT MOTTEL (Dresden) Gottfried Kellers Novellenzyklus „Das Sinngedicht“. Insbesondere anhand der Erzählung von den „Berlocken“ konnte er Bedingungen, Verfahren und Funktionen der Fetischisierung deutlich machen, die hier in die Konstellation einer doppelten Konfrontation (amerikanischer Unabhängigkeitskrieg, „Krieg“ gegen das andere Geschlecht) eingebaut war und zugleich ein lange etablierte Lesart über die Herkunft des Fetischgebrauchs aus dem ethnographischen Diskurs umkehrte.

Inwiefern dem Leser die „Magie der Dinge“ in der Kategorie des Ästhetischen entgegen trat, verdeutlichte PETER C. PFEIFFER (Washington, DC) in seinem Vortrag am Beispiel von Stifters „Granit“. In Stifters immanenter Ästhetik, die er anhand der Bank aus Granit entwarf, könne nur Literatur den Alltags- und Gebrauchswert eines Objekts erzählen und es zugleich als ästhetisches Objekt dem Verschleiß an Sinn und Funktion entrücken. So wie die steinerne Bank durch Benutzung immer feiner würde, obgleich sie Gebrauchsspuren, Flecken und Beschädigungen übertrüge, bliebe auch die Literatur selbst makellos.

Den Inszenierungsformen und –kontexten von mündlichen (Reise-)Erzählungen und deren Funktionen in literarischen Texten wendete sich KERSTIN STÜSSEL (Siegen) in ihrem Vortrag zu. Familienmodelle bildeten in realistischen Texten den Rahmen, der durch Reiseerfahrungen und Reiseerzählungen überschritten, gestört oder restituiert wurde. Der Tatsache, dass unter den Bedingungen von Mobilität und Globalisierung auch Familien zu einem Erfahrungsraum von Bindungslosigkeit und individueller Vereinsamung geworden seien, begegneten die poetologischen Texte des Realismus durch das Insistieren auf Ursprungsszenarien aus den Aufschreibesystemen um 1800, die die „Geburt des Dichters“ aus dem Schoß familiärer Geborgenheit im Zeichen einer Primärsozialisation durch die Oralität mütterlicher Rede (durch Märchen und Gesänge) imaginierten. Diese Unterstellung von der Familiarität stiftenden Kraft mündlichen Erzählens befragten die realistischen Texte Berthold Auerbachs, Gottfried Kellers, Theodor Storms und Wilhelm Raabes auf ihre Gültigkeit.

RUDOLF HELMSTETTER (Erfurt) analysierte in seinem Vortrag die Poetik des realistischen Opfers vor allem in Fontanes „Effi Briest“. Der Referent verortete zunächst Fontanes Autorschaft „an den Quellen der ethnologischen Forschung“, zu der er unter anderem über Moritz Lazarus als persönlichen Bekannten und Vermittler der Völkerpsychologie Zugang hatte. Analog zu seiner These der „doppelten Lesbarkeit" von Fontanes Texten – einer naiven Lektüre stereotyper Elemente der Trivialliteratur und einer diese Elemente unterlaufenden Schicht, die Ironie erzeuge und auf Distanz setze – analysierte Helmstetter Fontanes Poetik des realistischen Opfers in „Effi Briest“. Gegen die Lesart, die Effi nur als Opfer (im Sinne von „victima“) zu begreifen vermag, entfalte sich in Fontanes literarischer Ethnographie der eigenen Kultur die Substitutionslogik des Opfers zu einer „urbanen Distanz“ und einer „Magie des Abstands“.

DANIELA GRETZ (Hagen) zeigte in ihrem medienhistorisch ausgerichteten Vortrag unter breiter Berücksichtigung der ‚benachbarten’ Zeitschriftenbeiträge die Anverwandlungsstrategien, mit denen die realistische Literatur, insbesondere Wilhelm Raabe, das „innere Afrika“ (Jean Paul) zur Generierung psychologischer, psychopathologischer und auch antisemitischer Semantiken uminterpretierte. Die Voraussetzungen dafür wurden durch die Sprache des Kolonialismus, durch Weltverkehr und Fremderfahrung geschaffen.

Über die Ausstellung der Rhetorizität des wissenschaftsförmigen Wissens, das sich zur Konsistenzerzeugung schon immer sprachbildlicher und textueller Mittel bediente, referierte MICHAEL GAMPER (Zürich) in seinem Vortrag. Er ging zunächst von der Beobachtung aus, dass die Formulierung der Evolutionstheorie an Bewegungen durch Zeit und Raum geknüpft war. Aufgrund dessen wiche sie signifikant vom zeitgenössischen Paradigma naturwissenschaftlicher Beweisbarkeit ab; Evolution könnte nicht im Experiment und unabhängig von raumzeitlichen Bedingungen nachvollzogen werden. Dieser Sachlage antwortete Darwin, indem er an die Stelle der Lücken, in denen Evidenz durch Hypothesen hergestellt werden musste, Gedankenexperimente und Analogieschlüsse einschaltete, um die Geschlossenheit seiner Theorie zu erzeugen. Anhand einer Lektüre des bekannten German Fell-Kapitels aus Wilhelm Raabes „Akten des Vogelsangs“ analysiert er die Effekte der rhetorischen Experimentalanordnung Darwins in der Literatur.

KATHARINA GRÄTZ (Freiburg im Breisgau) diskutierte anhand ausgewählter „Landpartien“ im Œuvre Fontanes die für die bürgerliche Wahrnehmung konstitutive „Verschränkung von Räumen und Bildern“. Dieselbe ließe sich mit Wolfgang Iser als „phantasmatische Figuration“ charakterisieren und diente in Fontanes Texten insbesondere dazu, anhand von binnenexotischen Landschaftsbildern die Paradoxien des Wechsels von Erfahrungsräumen vorzuführen. Die Landpartie als Binnentourismus verlängerte in den ländlichen Raum jene Differenzen und Aporien, die Teil der bürgerlichen Welt gewesen seien.

Sowohl die verstärkte theoretische Auseinandersetzung mit Herrschaftsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch die Entstehungsbedingungen einer Wissenschaft wie der "Völkerpsychologie", die sich komplementär zur Prominenz geopolitischer Großbegriffe wie „Nation“ und „Rasse“ entwickelte, kann man als Reflex auf die globale Erschließung und Vermachtung von Räumen identifizieren. ULRICH VAN LOYEN (München) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit dem im Projekt einer "Völkerpsychologie" durch Moritz Lazarus und Chaijm Steinthal unternommenen Versuch, den Kollektivsingular „Volk“ jenseits substantialistischer Einheiten wie gemeinsamer Abstammung oder territorialer Geschlossenheit zu definieren. Im Konstrukt eines „Volksgeistes“, der sich in Sprache, Mythologie und Religion verkündet und tradiert habe, sahen Lazarus und Steinthal jene die verschiedenen Völker nach außen distinguierende, nach innen verbindende Einheit des Verschiedenen. ULRICH FRÖSCHLE (Dresden) suchte in seinem Vortrag nach den diskursiven Fundamenten von Max Webers Konzept der „charismatischen Führung“. Webers Definition von „Charisma“ als „außeralltägliche Qualität“ und „übernatürlich“ gedachte Begabung des Körpers und Geistes impliziere die Annahme „angeborener“, mithin vererblicher Führungsqualitäten. Den Prämissen dieser Implikation spürte Fröschle zum einen in literarischen Texten, zum anderen in historiographischen, völkerpsychologischen, natur- und geschichtsphilosophischen Texten des 19. Jahrhunderts nach.

NICOLAS PETHES (Hagen) las in seinem Vortrag Melvilles Roman „Moby Dick“ als „Allegorie epistemologischer Obdachlosigkeit“. Seine Lektüre des Prärie-Kapitels entfaltete diese These, indem sie zeigte, wie die verschiedenen Interpretationen (phrenologisch, physiognomisch, ästhetisch oder kabbalistisch) zwar einerseits Sinn zu generieren scheinen, andererseits aber immer wieder von den Tatsachen unterwandert würden. Melvilles Aufforderung, Kapitel und Wal gleichermaßen zu lesen, thematisierte also die Perspektivität und Historizität des Wissens. Pethes plädierte deshalb für einen integralen Wissensbegriff der Literatur, um der Dichotomie Wissen/Nichtwissen zu entgehen; ein integraler Wissensbegriff sei dazu in der Lage, die Voraussetzungen und Konfigurationen des Wissens mitzuerzählen.

NIELS WERBER (Siegen) ging in seinem Abendvortrag „Eine Reise zu den Ameisen. Zur Kulturgeschichte entomologischer Expeditionen“ auf die grundsätzliche Vorgängigkeit des Reisens zur Theoriebildung Darwins ein. Darwins Stammbaumzeichnungen zeigten, anders als der von Werber immer wieder als Kontrast herangezogene Linné, Stammbäume nicht einfach als genealogische Abfolge in der Zeit, sondern vielmehr auch in ihrer räumlichen Entfaltung. Um diese Struktur erfassen zu können, wäre es notwendig gewesen, sie vor Ort zu studieren. Werber rekonstruierte die Annahmen und Voraussetzungen dieser Art biologischen Studiums anhand der Geschichte der Ameisenforschung bis ins zwanzigste Jahrhundert. Als Literaturwissenschaftler fragte Werber indes nach dem spezifisch literarisch-poetologischen Moment dieser Forschungsgeschichte, das er nicht zuletzt in der Funktionalisierung der Kategorie des Erhabenen erblickte.

Im Abschlussvortrag der Konferenz ging MORITZ BAßLER (Münster) zunächst von der Beobachtung aus, dass das Ende auffallend vieler realistischer Texte Spielarten der Entsagung variiere. Das Leben sei als defizitär empfunden worden, zuvor formulierte Ansprüche an Leben und Kunst blieben unerfüllt. Aus diesem Befund auf der Textebene entwickelte Baßler im Rückgriff auf symboltheoretische Überlegungen die These, dass die Entsagung auf inhaltlicher Ebene mit der generellen Entsagung des Realismus gegenüber der Diskursfülle seiner Zeit korrespondiere.

Insgesamt erforderte und erwies die Leitfrage der Tagung nach den Formationsbedingungen einer „realistischen Anthropologie“ die Notwendigkeit des interdisziplinären Herangehens.
Wie kontrovers indessen die Funktion der Literatur in diesem Diskursgefüge diskutiert werden kann, zeigte das Spektrum der Vorträge, die zum einen die enorme Integrationsleistung literarischer Texte für ethnographisches, geologischen, naturkundliches, evolutionsbiologisches Wissen nachwiesen, dem entgegen aber auch die totale Verweigerung der Literatur gegenüber der Diskursfülle der Zeit behaupteten. Das Thema zeigte sich so als allemal fruchtbares, herausforderndes Forschungsfeld, zu dem der Tagungsband mit Spannung erwartet werden darf.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Reisen, Sammeln, Erzählen

Bernhard Kleeberg (Konstanz): Reisen in den Kontinent der Armut. Ethnographie des Sozialen im 19. Jahrhundert.

Gabriele Dürbeck (Hamburg): „Künstliche Wilde“ im ethnographischen Abenteuerroman bei Friedrich Gerstäcker.

Dominik Fugger (Erfurt): Aufsuchen - Erforschen - Erzählen. Das Werk von Ferdinand Gregorovius als Paradigma realistischer Textproduktion.

Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah (Dresden): Ihre Sicht der Dinge. Margarethe und Alexander Königs Reiseberichte im Spannungsfeld von Beobachtung und Verschriftlichung.

Michael Neumann (Dresden): Wandern und Sammeln. Zur Poetik der Raumerfahrung.

Sektion II: Medien des Realismus

Walter Schmitz (Dresden): „Der Mensch ist gut“. Anthropologische Erkundungen in den Dorfgeschichten von Berthold Auerbach und Otto Ludwig.

Lothar Schneider (Gießen): Reisen vor Ort. Zur multiplen Verwendung von Reiseliteratur in Gustav Freytags „Soll und Haben“

Torsten Hahn (Köln): Das Rauschen der „Übersetzungsmaschine“. F.W. Hackländers „Reise in der Orient“ und die Störung der west-östlichen Erzählung.

Stephan Höhne: „Dieser Gentleman reiste nicht, er beschrieb eine Kreislinie.“ Die Genese des modernen Passagiers in Jules Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“.

Manuela Günter (Köln): Wissen erzählen. Fontanes literarisches Infotainment.

Sektion III: Magie der Dinge

Uwe C. Steiner (Mannheim): Das Leben der Dinge und die Tücken des Subjekts - vom Aufstand der Wohnungseinrichtung bei Stifter, Vischer, Busch und Keller.

Kenneth S. Calhoon (Eugene, OR): Die „Judenbuche“ und die Narbe des Odysseus: Zur Vorgeschichte des Realismus.

Peter Schnyder (Zürich): „Dieses sind meine Knochen“. Anthropologische und geologische Narrative in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“.

Helmut Mottel (Dresden): Magie und Fetisch in Kellers „Sinngedicht“.

Peter C- Pfeiffer (Washington, DC): Stifters „Granit“. Kulturanthropologische Aspekte.

Kerstin Stüssel (Siegen): Was von den Reisen übrig bleibt - Dinge, Zeichen und Geschichten
in realistischen Familien.

Rudolf Helmstetter: Das realistische Opfer.

Sektion IV: Das Wissen der Literatur

Daniela Gretz (Hagen): Das „innere Afrika“ des Realismus.

Michael Gamper (Zürich): Evolution erzählen. Das Wissen der Literatur aus dem Nicht-Wissen der Wissenschaften.

Katharina Grätz (Freiburg/Breisgau): Ausflüge ins Unbekannte. Binnenexotik bei Fontane.

Ulrich van Loyen (München): „...an Intelligenz und Kraft der Spekulation alle andern Völker übertroffen“. Steinthals semitischer Stolz und das Projekt der Völkerpsychologie.

Ulrich Fröschle: Geborene Führer? Zur Ethnographie „charismatischer Führung“ im 19. Jahrhundert.

Nicolas Pethes: Schädel, Tempel, Prärie. Überlegungen zum integralen Wissensbegriff der Literatur am Beispiel von Herman Melvilles „Moby Dick“

Abendvorträge

Niels Werber (Dortmund): Eine Reise zu den Ameisen. Zur Kulturgeschichte der entomologischen Expeditionen.

Georg Braungart (Tübingen): Erzählte Tiefenzeit. Geologie im Realismus.

Moritz Baßler (Münster): Gegen die Wand. Aporien des Spätrealismus.


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